Housing First: „Die eigene Wohnung kann Ausgangspunkt für sehr vieles sein.”

Housing First ist ein wohnungs- und sozialpolitischer Ansatz aus den USA, der bereits seit einigen Jahren erfolgreich in Österreich umgesetzt wird – unter anderem auch bei der Volkshilfe Wien. 

Wir haben mit Angelika Weber, Sozialarbeiterin bei Housing First Volkshilfe über ihre Arbeit, die Vorteile des Housing First Konzepts und die Bedeutung einer eigenen Wohnung gesprochen. 

 

Was genau bedeutet Housing First?

Angelika Weber: Housing First ist ein wohnungs- und sozialpolitischer Ansatz aus den USA, der bereits seit einigen Jahren erfolgreich in Österreich umgesetzt wird. Housing First zeichnet sich dadurch aus, dass wohnungslose bzw. obdachlose Menschen einen direkten Zugang zu einer eigenen leistbaren Wohnung erhalten. Der Erhalt einer Wohnung ist nicht an Bedingungen geknüpft, Klient*innen müssen nicht ihre Wohnfähigkeit unter Beweis stellen.

Die meisten Unterstützungskonzepte der Wohnungslosenhilfe sehen vor, dass die Klient*innen vor Erhalt einer Wohnung ihre Probleme bearbeiten und somit dann als wohnfähig gelten. Bei Housing First schließen die Klient*innen einen eigenständigen Mietvertrag ab und werden zusätzlich von Sozialarbeiter*innen der Volkshilfe Wien bedarfsgerecht unterstützt. Die Betreuung passiert auf freiwilliger Basis. Durch Housing First wird das Menschenrecht auf Wohnen so gut wie möglich umgesetzt und zeichnet sich durch die Leitprinzipien Freiwilligkeit, Partizipation und individuelle Hilfsangebote aus.

   

Was sind die Vorteile des Housing First Konzepts? Gibt es auch Nachteile?

Housing First hat klar den Vorteil, dass es direkt um die eigene Wohnung geht und somit ein selbstständiges Leben wieder möglich ist. Mit Abschluss des eigenen Mietvertrags ist das wichtige Grundbedürfnis Wohnen gedeckt und die Klient*innen können sich anderen Themen widmen – Arbeitssuche, Ausbildung, Gesundheit etc. Die eigene Wohnung kann Ausgangspunkt für sehr vieles sein. Diskriminierungen bei der Arbeitssuche aufgrund einer bestehenden Wohnungslosigkeit/Obdachlosigkeit werden gemindert.

Klient*innen müssen sich nicht verstellen oder etwas beweisen, um eine eigene Wohnung zu bekommen und als wohnfähig zu gelten. Housing First geht davon aus, dass alle Menschen wohnen können. Ein Vorteil von Housing First liegt sicher auch in der bedarfsgerechten und individuellen Betreuung und Unterstützung. Es gibt keine fixen Terminintervalle, die eingehalten werden müssen, es wird mit den Klient*innen ein individuelles Betreuungskonzept vereinbart und somit bedarfsgerecht auf ihre individuellen Problemlagen eingegangen.

Die Betreuung beginnt oftmals vor Wohnungserhalt, wodurch Bedürfnisse der Klient*innen abgeklärt werden und auch eine entsprechende Wohnung gefunden werden kann.

Ein Nachteil ist, dass es zu längeren Wartezeiten auf eine Wohnung kommen kann. Housing First Volkshilfe arbeitet mit Genossenschaften zusammen und ist auf die Verfügbarkeit leistbaren Wohnraums angewiesen. Außerdem müssen Klient*innen für den Finanzierungsbeitrag einer Genossenschaftswohnung oftmals eine Ansparung vorweisen, die durch das geringe Einkommen oft schwer zu erzielen ist.

 

Housing First Projekte haben ja eine sehr gute Erfolgsquote. Was glaubst du, warum das so ist?

Für Menschen, die gewisse Zeit wohnungs- oder obdachlos waren, hat die eigene Wohnung einen hohen Stellenwert und ist ein hohes Gut, das sie nicht wieder verlieren möchten. Als Mieter*in mit eigenem Mietvertrag ist eine soziale Teilhabe möglich und die Klient*innen fühlen sich wieder als gleichberechtigter, gleichwertiger Teil der Gesellschaft. Es findet eine Entstigmatisierung statt.

Wir gehen in der Betreuung individuell auf unsere Klient*innen ein und können dadurch einen langfristigen Wohnungserhalt ermöglichen. Im Housing First findet die Betreuung auf Augenhöhe statt. Wir trauen den Klient*innen zu, ohne Bedingungen selbstständig zu wohnen und dadurch gewinnen sie wieder Vertrauen in sich selbst und ihre Fähigkeiten.

         

Nach der Wohnungslosigkeit/ Obdachlosigkeit eigene vier Wände bekommen – was bedeutet das für eure Klient*innen?

Für einige Klient*innen ist die Housing First Wohnung die erste eigene Wohnung. Für viele bedeutet die eigene Wohnung zu erhalten, einen Neustart, endlich Sicherheit und Privatsphäre zu haben. Sie können endlich „ankommen“ und zur Ruhe kommen.

Die eigene Wohnung bedeutet aber auch viel Verantwortung, das kann gerade in der ersten Zeit auch überfordern. Daher bieten wir dann verstärkt unsere Unterstützung an.

 

Was macht die Volkshilfe Wien im Bereich Wohnungslosenhilfe bzw. speziell Housing First?

Housing First Volkshilfe ist seit Oktober 2019 Teil der Social Housing Initiative der Erste Bank. Im Rahmen dieser Initiative ermöglicht die Erste Bank eigenmittelfreien Zugang zu leistbaren Wohnungen für Klient*innen und übernimmt den Finanzierungsbeitrag für die Mieterinnen und Mieter. Außerdem ist Housing First Volkshilfe seit Kurzem Teil des Projekts HomeStreetHome von Immobilienscout und OneWarmWinter/DOJOcares. Hier können bei jedem neuen Wohnungsinserat auf Immobilienscout angeben, ob sie ihre Wohnung auch an ehemals obdachlose Menschen vermieten möchten. Die Volkshilfe Wien bekommt dann eine Benachrichtigung über die neu inserierte Wohnung und kann sie an Klient*innen weitervermitteln.

Seit Juni diesen Jahres hat Housing First Volkshilfe das Betreuungsangebot um einen Peer-Mitarbeiter erweitert. Ein Peer ist eine Person, die selber wohnungslos war und Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe in Anspruch genommen hat. Aus dieser Erfahrung heraus bringt, der oder die Mitarbeiter*in wertvolle Kenntnisse und Wissen mit und wird zu einem*r wichtigen Wegbegleiter*in für die Klient*innen. Es gibt einen Zertifikatskurs, der eine*n Peer berechtigt, als solche*r angestellt zu werden.

Neben dem Projekt Housing First hat die Volkshilfe Wien mehrere Angebote, die Menschen unterstützen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Das Angebot umspannt unter anderem ein Notquartier mit Tageszentrum, das Grundbedürfnisse wie Schlafen, Essen und Trinken und Aufwärmen abdeckt bis hin zur Fachstelle für Wohnungssicherung (FAWOS), die Menschen berät und unterstützt, die vom Verlust ihrer Wohnung bedroht sind.

 

Welche Erfahrungen hast du mit “Housing First” in deiner Arbeit gemacht?

Es ist immer wieder schön, Klient*innen eine Wohnung zeigen zu können, sie beim Einzug zu unterstützen und danach bei den weiteren Entwicklungen zu begleiten und zu betreuen. Man merkt in der Arbeit immer wieder, wie wichtig die eigene Wohnung als Basis für alles Weitere ist. Für viele beginnt dann ein ganz neues Leben. Ein Klient hat wieder Kontakt mit seiner Familie aufgenommen, nachdem die Zeit auf der Straße für ihn mit Scham behaftet war und er daher den Kontakt abgebrochen hatte. Er hat auch nach einiger Zeit Zukunftsperspektiven entwickelt und eine Ausbildung begonnen.

Andere Klienten haben sich von Anfang an so wohl gefühlt in der Wohnung, haben Kontakte in der Nachbarschaft geknüpft und unterstützen jetzt bei Hundesitting.

 Eine alleinerziehende Mutter hat durch Housing First eine eigene Wohnung bekommen und dadurch wieder Sicherheit und Selbstständigkeit vom gewalttätigen Ex-Mann wiedererlangt. Eine andere Klientin hat die Wohnung erhalten, konnte sich somit auf die Arbeitssuche konzentrieren und arbeitet nun seit über 2 Jahren in derselben Arbeitsstelle.

 

Gibt es sonst noch etwas, dass du über Wohnungslosenhilfe allgemein bzw. Housing First erzählen möchtest?

Aus den oben genannten Vorteilen und Erfahrungen wäre es wichtig, dass der Housing First Ansatz auf breiter Ebene verstärkt und ausgebaut werden sollte. Wohnen muss leistbar sein, die Sozialpolitik sollte daran arbeiten, dass genügend leistbarer Wohnraum geschaffen wird.