Die Pandemie der Wohnungslosigkeit | Wie wir jetzt Delogierungen verhindern

Nach der Gesundheitskrise droht jetzt die soziale Krise. Immer mehr Menschen in Wien und ganz Österreich können ihre Miete nicht mehr bezahlen. Oft landen sie dann bei der Volkshilfe Wien, genauer gesagt in der Fachstelle für Wohnungssicherung (kurz FAWOS), einer Beratungsstelle für Menschen, denen Mietschulden über den Kopf gewachsen sind.

Der Andrang in der FAWOS wird immer größer und es ist kein Ende in Sicht – ganz im Gegenteil. Bis zu 17.000 Menschen könnten bald von Delogierung bedroht sein. 

“So etwas wie die typische Person, die ihre Miete nicht mehr bezahlen kann, gibt es nicht”, sagt Anne Wehrum, Sozialarbeiterin und stellvertretende Leiterin der Fachstelle für Wohnungssicherung. Aus ihrer täglichen Arbeit weiß sie: Betroffene haben unterschiedliche Geschichten und die verschiedensten Gründe für ihre Situation. Oft kommen mehrere Dinge zusammen, eines führt zum anderen. Nicht erst seit Corona gilt: Es kann jede*n treffen. 

Als Veronika, die eigentlich anders heißt, sich an die FAWOS wendet, ist eine Miete offen und bereits eine Räumungsklage eingebracht. Der Grund für den Mietrückstand: Veronika musste in den zwei Monaten davor eine Waschmaschine und einen Kühlschrank kaufen. Außerdem brauchten ihre Kinder neue Sachen. 

Durch die unerwarteten Ausgaben reicht es am Ende nicht mehr für die Miete. Denn das Geld ist knapp: Veronika ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern, die Vaterschaft der Kinder ist nicht anerkannt. Dadurch bekommt Veronika keinen Unterhalt für sie. Alle Familienmitglieder sind russische Staatsbürger*innen, Veronika ist arbeitslos und hat den Aufenthaltsstatus als Subsidiär Schutzberechtigte. Das heißt auch, dass Veronika keine Familienbeihilfe bekommt. 

Fehlender Zugang und hohe bürokratische Hürden spielen bei drohendem Wohnungsverlust häufig mit. Betroffene haben keinen Anspruch auf bestimmte Förderungen und Hilfen oder wissen gar nicht so genau, was sie alles beantragen und an wen sie sich wenden können. Oft fehlt auch das notwendig Vorwissen, etwa wie Formulare richtig ausgefüllt werden. Wenn dann, so wie bei Veronika, noch Sprachbarrieren hinzu kommen, sind die Betroffenen schnell überfordert und verloren im Behördendschungel. 

So geht es auch Xenia, sie sucht ebenfalls Unterstützung und Beratung in der Fachstelle für Wohnungssicherung der Volkshilfe Wien. Xenia und Veronika sind sich nie begegnet, doch in manchen Punkten ähnelt sich ihre Situation. Beide sind alleinerziehend, beide bekommen keine oder nur unregelmäßig Alimente. Mit nur einem Gehalt und der Doppelbelastung durch die unbezahlte Arbeit im Haushalt bzw. die Kinderbetreuung ist es schwieriger eine Wohnung zu halten.

“Natürlich sind nicht alle alleinerziehenden Personen in Gefahr ihre Wohnung zu verlieren, jedoch ist gerade eine Trennung ein Risikofaktor”, erklärt Wehrum. Etwa wenn eine Person aus der gemeinsamen Wohnung auszieht und die “verbleibende” Person plötzlich die gesamte Miete zahlen muss.

So war es auch bei Xenia: Sie arbeitet seit 10 Jahren in einem großen Konzern, hat ihre Ausbildung dort gemacht und ist danach geblieben. Bis sie mit ihrem Sohn schwanger wird und in Karenz geht. In dieser Zeit trennt sie sich vom Vater ihres Kindes, er zieht aus der gemeinsamen Wohnung aus. Plötzlich ist viel weniger Geld da als vorher, Karenzgeld statt ihr volles Gehalt und das Einkommen ihres Ex-Partners fällt komplett weg. Die gesamte finanzielle Belastung der Wohnung bleibt an Xenia hängen. Ihr Ex zahlt nur unregelmäßig Alimente, was die Situation noch schlimmer macht. Die psychische Belastung für Xenia steigt, ihr wird alles zu viel. 

Nachdem Xenia zwei Mieten nicht mehr bezahlt hat, folgt die Räumungsklage durch die Hausverwaltung. Zu diesem Zeitpunkt wohnt Xenia schon acht Jahre in der Wohnung. Woanders hinziehen, das kann sie sich schwer vorstellen. Außerdem findet sie keine wesentlich günstigere Wohnung, vor allem nicht so schnell.

Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von der Fachstelle für Wohnungssicherung bemühen sich nach Kräften die drohende Delogierung abzuwenden. Ein erster kleiner Erfolg: Die Hausverwaltung ist bereit sich zu einigen, aber nur unter der Bedingung, dass die offenen Mietrückstände plus Zinsen bezahlt und die Gerichtskosten übernommen werden. 

Durch zwei finanzielle Unterstützungen kann Xenia die Kosten bewältigen: Sie bekommt den Corona Bonus der Familienbeihilfe und sucht mit Unterstützung der FAWOS bei der MA 40 um Hilfe in besonderen Lebenslagen an. Damit kann Xenia den Rückstand begleichen und den drohenden Wohnungsverlust aufhalten. Mittlerweile ist sie wieder in ihren Job zurückgekehrt.

Auch Veronikas Ansuchen auf Hilfe in besonderen Lebenslagen bei der MA 40 wird genehmigt. Nachdem die Wohnung dadurch erfolgreich gesichert werden konnte, bekommt Veronika ein sogenanntes “Wohncoaching”, eine langfristige Betreuung. Sie beginnt einen Deutschkurs, der ihr großen Spaß macht und macht schnell Fortschritte. 

Allerdings ist beim Wohncoaching immer wieder Thema, dass es Veronika nicht gelingt, zu Beginn des Monats die Miete pünktlich und in voller Höhe zu bezahlen. Schließlich bricht alles aus ihr heraus: Veronika öffnet sich und erzählt der Sozialarbeiterin, dass sie Schulden hat. “Die Briefe von den verschiedenen Gläubigern machen mir große Angst”, gesteht sie. Deshalb bezahlt sie immer wieder Raten, die sie sich eigentlich nicht leisten kann. 

Gemeinsam wird daraufhin ein Termin bei der Schuldnerberatung vereinbart, der erste Schritt in ein Leben ohne Schulden. Durch die Unterstützung der Volkshilfe Wien fühlt sich Veronika jetzt auch bestärkt, die Alimente für ihre Kinder einzuklagen. Und nachdem gemeinsam mit dem Amt für Jugend und Familie ein Kinderbetreuungsplatz für das jüngste Kind gefunden wurde, ist Veronika jetzt motiviert und auf Jobsuche.

Im Leben von Xenia und Veronika hat sich rechtzeitig alles zum Guten gewendet. Ab jetzt wird es bergauf gehen für die beiden Frauen und ihre Familien. 

Doch vielen Menschen in Österreich steht eine ähnliche Situation noch bevor. “Im Herbst oder spätestens im Frühjahr 2022 droht eine Delogierungswelle”, warnen die Expert*innen der Fachstelle für Wohnungssicherung. Die Volkshilfe Wien fordert jetzt gemeinsam mit der Arbeiterkammer einen Mieter-Hilfsfonds, um Menschen wie Veronika und Xenia zu unterstützen.