Weiblich*, wohnungslos, unsichtbar? – Das andere Gesicht der Wohnungslosigkeit

Wenn sie an wohnungs- oder obdachlose Menschen denken, haben die wenigsten das Bild einer Frau* im Kopf. Weibliche* Wohnungslosigkeit ist oft unsichtbar, von Mythen und Vorurteilen umrankt, etwas über das kaum gesprochen wird. Warum ist das so, aus welchen Gründen verlieren Frauen ihre Wohnung und was brauchen sie, um ihre Situation zu verbessern? Wir haben mit betroffenen Frauen und Mitarbeiterinnen unserer Wohnungslosenhilfe gesprochen.

 

Bei Wohnungslosigkeit denken noch immer viele Menschen an verwahrlost aussehende Männer auf einer Parkbank”, sagt Lina Daniel, Leiterin der Einrichtung Betreut Wohnen. “Wohnungslosigkeit hat jedoch viele Gesichter”. Aus ihrer Arbeit weiß sie: Vielen Frauen sieht man die Wohnungslosigkeit nicht an.  

 

Auch wenn die beiden Begriffe oft falsch synonym verwendet werden – wohnungslose Menschen sind nicht automatisch obdachlos, also ohne Dach über dem Kopf. Wohnungslosigkeit kann auch bedeuten, dass die Person ohne eigene Wohnung woanders unterkommt, etwa in einer Notschlafstelle, bei Freunden, Familie oder einem Partner. Letzteres ist gerade bei Frauen häufig der Fall: Sie suchen selbst nach Lösungen, die sie in neue Abhängigkeiten führen, gehen Zweckbeziehungen ein oder übernachten bei Zufallsbekanntschaften.

 

Es gibt viele Gründe, warum Frauen wohnungslos werden. “Ein großes Thema sind Gewalterfahrungen”, sagt Lina Daniel. Die Statistik gibt ihr leider recht. Laut einer Studie der European Women’s Lobby, gibt EU-weit eine von 1 von 3 wohnungslosen Frauen häusliche Gewalt als den Hauptgrund für ihre Situation an. “Armut ist ebenfalls ein großes Thema bei Frauen,  speziell für Alleinerziehende und im Alter,” ergänzt ihre Kollegin Angelika Weber aus dem Projekt Housing First. 

 

Auch Sucht, psychische oder körperliche Erkrankungen sind oft Grund für ein Leben ohne feste Bleibe und werden natürlich durch dieses noch verstärkt – eine Abwärtsspirale beginnt. So auch bei Sophie M.**: “Ich habe meine Wohnung aufgrund meiner Erkrankung verloren. Zuerst habe ich mit meiner Familie in einer Unterkunft für wohnungslose Familien gelebt”, erinnert sie sich. Danach nimmt sie Kontakt zur Volkshilfe Wien auf und kann schließlich in eine betreute Wohnung ziehen. Lucia R.** erzählt eine ähnliche Geschichte: Sie kommt zunächst mit ihrer Tochter in einem Frauenhaus unter, braucht dann aber eine langfristige Bleibe, die ihr die Volkshilfe Wien vermitteln kann. 

 

Bei der Volkshilfe Wien gibt es unterschiedliche Angebote für wohnungslose Personen, Paare und Familien, sowie spezielle Projekte für Migrant*innen und Menschen mit Fluchterfahrung. Der Ablauf ist immer ähnlich: Nach einem Erstgespräch wird eine Wohnung gesucht, sobald diese gefunden ist, können die Frauen einziehen. Entweder sind sie direkt Hauptmieterinnen oder leben in Wohnungen, die die Volkshilfe Wien für sie angemietet hat – mit der Option, sie später in Hauptmiete zu übernehmen. 

 

Bleibt jedoch ein Problem: Frauen nehmen die die Angebote der Wohnungslosenhilfe deutlich seltener in Anspruch als Männer. “Dabei spielen Scham und das Gefühl selbst Schuld zu sein, eine große Rolle”, meinen die Sozialarbeiterinnen. Außerdem brauche es mehr frauenspezifische Angebote: “Oft nützen Frauen gemischtgeschlechtliche Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nicht”.

 

Deshalb ist es sehr wichtig, in der Betreuung besonders auf die Bedürfnisse speziell von Frauen einzugehen – ein Aspekt, auf den die beiden in ihren Einrichtungen besonders achten. “Alleinerziehende sind meistens, aber nicht immer, Frauen. Oft ist die Kinderbetreuung ein Thema, die mit der Arbeit schwer zu vereinbaren ist.”, sagt Angelika Weber. Da viele Frauen Gewalt erfahren haben oder sogar vor einem gewalttätigen Partner flüchten mussten, fließt der Sicherheitsaspekt bei der Auswahl der Wohnung ein.

 

Der Einzug in eine eigene Wohnung reicht oft schon, damit es den Frauen deutlich besser geht. Nach Monaten oder sogar Jahren in Unsicherheit, prekären oder provisorischen Wohnverhältnissen, sind die eigenen vier Wände eine immense Erleichterung. Auch die Lebensqualität von Sophie M. und ihren Kindern hat sich sehr verbessert: “Wir haben dadurch wieder unsere Privatsphäre und sind auf dem Weg zurück in ein normales Leben.” Auch für Lucia R. hat sich ihr Leben zum Besseren verändert: “Wir haben ein Dach über dem Kopf, was für mich Sicherheit bedeutet, Wind im Rücken für alles, was uns erwartet.”

 

Im Durchschnitt dauert die Betreuung durch die Wohnungslosenhilfe der Volkshilfe Wien 18 Monate. Die Sozialarbeiter*innen sind in dieser Zeit eine wichtige Stütze für die Frauen, das merkt man auch an der Art, wie sie über ihre Berater*innen sprechen: “Meine Beraterin ist immer da, um mir den besten Rat zu geben oder mir einfach zuzuhören, wenn ich es brauche. Seitdem ich weiß, dass ich nicht alleine bin, fühle ich mich sehr sicher und selbstbewusst”, sagt etwa Lucia R. 

 

Auch die Sozialarbeiterinnen Angelika Weber und Lina Daniel wissen, wie wichtig es ist, für die Frauen da zu sein, die oft Schlimmes erlebt haben: “Wir unterstützen dabei finanzielle Ansprüche zu sichern, Schulden zu regulieren und Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Es finden je nach Bedarf Hausbesuche, Begleitungen und Termine im Büro statt, jetzt in der Corona-Zeit stehen wir vor allem telefonisch zur Verfügung.” 

 

All das hilft den Frauen, dass sie hoffnungsvoll nach vorne schauen können, auch wenn Zukunftsängste natürlich ein Thema sind: “Durch Corona ist alles schwieriger geworden. Da mach ich mir große Sorgen”, sagt etwa eine Klientin. Als wir die Frauen nach ihren Wünschen für die Zukunft fragen, stehen Gesundheit und der Einstieg ins Berufsleben an erster Stelle, sowohl für sich selbst als auch für ihre Familie. Lucia R. fasst ihr Wünsche folgendermaßen zusammen: “Gesundheit an erster Stelle. Außerdem wünsche ich mir, meine Ausbildung fortzusetzen, die deutsche Sprache besser zu beherrschen, das Erlebte zu verarbeiten. Und dann, wenn alles vorbei ist, ein Buch über mein Leben zu veröffentlichen und vielleicht andere Frauen, die noch auf diesem Weg sind, dazu inspirieren, stärker zu sein, Glauben und auch Geduld zu haben.”

 

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*Bezeichnungen wie Frauen und Männer, meinen alle Menschen die sich unter der jeweiligen Bezeichnung definieren, unabhängig vom biologischen Geschlecht. 

**Alle Namen unserer Klientinnen wurden zum Schutz der Frauen geändert.