Soziale Sicherheit ist die verlässlichste Grundlage der Demokratie
Als Europäische Demokratie-Hauptstadt hat Wien nicht nur Anerkennung bekommen, sondern auch einen klaren Auftrag. Im Gespräch mit Stadtrat Jürgen Czernohorszky, stellen wir die Frage: Wie Demokratie im Alltag spürbar wird und welche Funktion Gemeinwesenarbeit wie Volkshilfe Community Work dabei hat.
Volkshilfe: Michael Häupl meinte unlängst „Armut frisst Demokratie“ – vor welchen Gefahren steht unsere Demokratie gegenwärtig?
Czernohorszky: Wir müssen Demokratie als soziale Realität stärken. Solange sich zu viele Menschen abgehängt fühlen – materiell, kulturell, emotional – bleibt die liberale Demokratie ein Versprechen, das nicht eingelöst wird. Es braucht Investitionen in Bildungsgerechtigkeit, bezahlbaren Wohnraum, faire Arbeitsbedingungen – kurz: in ein Leben, das Teilhabe ermöglicht.
Volkshilfe: Wien wurde zur Europäischen Demokratie-Hauptstadt gewählt– was bedeutet das für Sie persönlich, und woran kann man das im Alltag tatsächlich erkennen?
Czernohorszky: Der Titel der Europäischen Demokratie-Hauptstadt ist einerseits eine Anerkennung für alles, was in Wien im Bereich Demokratie und Bürger*innenbeteiligung geleistet wird – von der Stadt über NGOs und Vereine bis zu kleinen Grätzl-Initiativen. Und ein ganz großer Teil dieser Anerkennung gilt den vielen Menschen, die sich tagtäglich unermüdlich dafür einsetzen, dass die Wienerinnen und Wiener ihre Stadt mitgestalten können, dazu zählt für mich auch die Volkshilfe.
Der Titel ist aber auch ein Auftrag, dass wir uns mit der bisherigen Arbeit nicht zufriedengeben, sondern unser Bemühen noch weiter verstärken. Im Alltag zeigt es sich heuer, dass es in allen Bezirken zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen zum Mitmachen gibt.
Volkshilfe: Welche Projekte fallen Ihnen ein, wenn es darum geht, die Bevölkerung in allen ihren Facetten in der Nachbarschaftsarbeit abzubilden?
Czernohorszky: In der Stadt Wien sind wir in der glücklichen Situation, dass es eine Vielzahl von Initiativen und Projekten gibt, die die Bevölkerung in ihrer Diversität in der Nachbarschaftsarbeit abbilden. Neben dem bereits erwähnten Wiener Klimateam gibt es etwa noch die Grätzllabore des Vereins Lokale Agenda 21 in zwölf Wiener Bezirken. Und natürlich die Volkshilfe Community Work.
Volkshilfe: Warum sehen Sie Community Work als einen wichtigen Beitrag in der Gemeinwesenarbeit?
Czernohorszky: Community Work ist so wesentlich, weil dadurch die Bedürfnisse und Anliegen einer Community direkt erfasst werden können, was bedeutet, dass Programme gezielt auf spezifische Bedürfnisse abgestimmt werden können. Die Bürger*innen wissen bekanntlich am besten, was sie brauchen. Darüber hinaus zielt Community Work darauf ab, die Fähigkeiten und das Wissen der Menschen zu stärken, damit sie Veränderungen in ihren eigenen Gemeinschaften herbeiführen können, wodurch Selbstwirksamkeit und soziale Verantwortung gefördert werden.
Volkshilfe: Demokratie lebt von Teilhabe. Wie gelingt es Wien, auch Menschen mit wenig Einkommen, Fluchterfahrung oder Bildungshürden in demokratische Prozesse einzubinden?
Czernohorszky: Sie sprechen einen zentralen Punkt an. Studien zeigen, dass sich gerade Menschen mit geringen Einkommen weniger am Stadtgeschehen beteiligen und sich oft kaum von den Mitsprache-Angeboten angesprochen fühlen. Zu viele Menschen wenden sich von der demokratischen Beteiligung ab oder kommen erst gar nicht an. Manche sprechen daher auch von einem Trend zur „Zweidrittel-Demokratie“. Genau dem wollen wir uns in Wien entgegenstellen, indem wir unsere Beteiligungsangebote laufend auf den Prüfstein stellen und daran arbeiten, Hürden abzubauen.
Ein Beispiel dafür ist das Wiener Klimateam, mit dem wir ein Budget für Klima-Projekte in Bezirken zur Verfügung stellen, über dessen Verteilung eine repräsentativ geloste Bürger*innenjury entscheidet. Dadurch können auch Menschen über ihre Lebensumgebung mitbestimmen, die kein Wahlrecht haben. Und wir suchen gezielt die Kooperation mit Organisationen, um auch Menschen mit weniger Ressourcen zu erreichen und ihre Bedürfnisse und Wünsche abzufragen.
Volkshilfe: Wie wichtig ist soziale Sicherheit als Grundlage dafür, dass Menschen überhaupt an Demokratie teilhaben können?
Czernohorszky: Es war Johann Böhm, der erste ÖGB-Präsident nach dem Zweiten Weltkrieg, der sagte: „Soziale Sicherheit ist die verlässlichste Grundlage der Demokratie.“ In diesem Satz steckt auch eine der wichtigsten Lehren aus dem dunkelsten – dem nationalsozialistischen – Kapitel unserer Geschichte. Darum dürfen wir diesen Zusammenhang niemals vergessen.
Demokratie wird dort gestärkt, wo Menschen in die Lage versetzt werden, sich von den unmittelbaren Sorgen, um ihre Existenz zu befreien und so über die Ressourcen verfügen, sich mit der Gestaltung ihrer Umgebung befassen zu können. Und sie ist umgekehrt dort bedroht, wo die Sorge um die eigene finanzielle Situation so bedrückend wird, dass sie die Sorge um die Stabilität demokratischer Institutionen in den Hintergrund treten lässt.
Volkshilfe: Welche Zielgruppen wollen Sie im Rahmen des Demokratiejahres 2025 erreichen?
Czernohorszky: Unser Motto als Demokratiehauptstadt ist „In Wien zählt jede Stimme“. Mein Anspruch an das Demokratiejahr ist daher: Laut für die Leisen sein, darauf schauen, dass jene, die bisher wenig mit Beteiligungsprojekten in Berührung gekommen sind und die keine große Lobbys hinter sich haben oder die gar nicht wählen dürfen, Werkzeuge in die Hand bekommen, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen. Daher haben wir mit dem „Büro für Mitwirkung“ eine eigene Stelle ins Leben gerufen, die sich unter anderem genau damit beschäftigt.
Volkshilfe: Demokratie ist lebendige Diskussion und Mitbestimmung. Welche Möglichkeiten der Partizipation können von den Wiener*innen im Rahmen der „Europäischen Demokratie-Hauptstadt“ genutzt werden?
Czernohorszky: Wir haben mit vielen Kooperationspartner*innen ein vielfältiges Demokratie-Programm auf die Beine gestellt. Alle Angebote finden sich im Veranstaltungskalender unter https://demokratiehauptstadt.wien.gv.at. Und wir haben ein Förderprogramm aufgelegt, mit dem 300.000 Euro für Projekte vergeben werden, die Demokratie und Beteiligung fördern und das Zusammenleben in unserer Stadt stärken. Eine Fachjury hat nach zwei Fördercalls 34 Projekte ausgewählt. Die Projekte reichen vom Beserlparktheater über einen Mitmach-Supermarkt bis hin zu einem Bürger*innenrat zum Thema Medien und Demokratie.
Volkshilfe: Mit der Veranstaltung „Truth, Lies and Democracy“ sprechen Sie junge Menschen und Gamer an. Wie wichtig ist Demokratiebildung in der Kindheit und Jugend?
Czernohorszky: Demokratie wird tagtäglich von uns allen im Alltag gelebt, ob in der Schule, im Betrieb oder in der Freizeit. Daher ist es aus meiner Sicht enorm wichtig, demokratisches Bewusstsein in allen gesellschaftlichen Bereichen zu stärken, und zwar lebensnah und altersgerecht. Das fängt schon im Kindergarten an und endet auch nie.
Wie wird eine Stadt zur Europäischen Demokratie-Hauptstadt?
Die Stadt Wien erhielt nach einem zweistufigen Auswahlverfahren den Titel Europäische Demokratie-Hauptstadt, weil konsequent auf Teilhabe, soziale Gerechtigkeit und eine aktive Stadtgesellschaft gesetzt wird. Wien behauptet sich somit gegen sieben weiteren Bewerberstädten.