Kinderarmut: „Es braucht eine strukturelle Lösung“

Kinderarmut abschaffen: Hier geht’s zur Petition! 

Arm sein – Was für viele von uns nur ein abstraktes Konzept bleibt, ist für jedes fünfte Kind in Österreich die bittere Realität. Armut wirkt sich auf alle Lebensbereiche der betroffenen Kinder aus, sie haben weniger soziale Kontakte, sind häufiger krank und leiden unter psychischen Problemen.

Auch wenn Österreich eines der reichsten Länder der Welt ist, müssen über 370.000 Kinder in Armut aufwachsen oder sind armutsgefährdet. Es ist zu erwarten, dass sich diese Situation durch die Corona-Krise und ihre sozialen und wirtschaftlichen Folgen noch weiter verschärfen wird.

Doch das alles müsste nicht so sein: Die Volkshilfe setzt sich seit Jahren für eine sogenannte Kindergrundsicherung ein, die allen Kindern in Österreich einen guten Start ins Leben ermöglichen soll, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten ihrer Eltern.

Das Prinzip ist denkbar einfach: Alle Kinder erhalten einen Betrag von mindestens 200 Euro im Monat, dieser ersetzt die jetzige Familienbeihilfe und den monatlichen Kinderabsetzbetrag. Darüber hinaus erhalten Kinder aus Haushalten mit geringerem Familieneinkommen bis zu 425 Euro monatlich. Das bedeutet etwa konkret, dass Kinder in Haushalten mit einem Einkommen von unter 20.000 Euro jährlich 625 Euro monatlich bekommen, Kinder aus Haushalten mit einem jährlichen Einkommen von über 35.000 Euro einen universellen Betrag von 200 Euro.

So weit, so gut, doch wie lässt sich diese Utopie in die Praxis umsetzen? Um das herauszufinden, startete die Volkshilfe Österreich 2019 ein europaweit einzigartiges Projekt: Zwei Jahre lang werden neun Familien und insgesamt 23 Kinder durch die Kindergrundsicherung unterstützt – mit erstaunlichen und ermutigenden Resultaten.

Wir haben mit Projektleiterin Judith Ranftler von der Volkshilfe Österreich über ihre Arbeit und das Projekt gesprochen. Sie hat uns erste Ergebnisse und Hintergrundinfos verraten und uns erzählt, was sich ihrer Meinung nach in Österreich ändern muss, damit die Kindergrundsicherung flächendeckend eingeführt wird und wir Kinderarmut abschaffen können.

 

Judith, kannst du uns zum Einstieg erzählen, wie die Idee der Kindergrundsicherung überhaupt entstanden ist?

In Österreich sind die Zahlen sehr erschreckend, jedes 5. Kind ist armutsbetroffen. Das ist einfach eine Anzahl an Kindern, die so groß ist, dass wir glauben, dass es nicht hilft, nur in individuellen Fällen zu unterstützen. Es braucht eine strukturelle Lösung, da es ein strukturelles Problem ist.

Wir haben uns überlegt, wie so eine Lösung ausschauen könnte und auch wie wir uns die Gesellschaft vorstellen, in der wir leben möchten. Zunächst haben wir uns der Frage angenähert – was kostet das Aufwachsen eines Kindes pro Monat? Wir sind dann auf einen Betrag von etwa 625 Euro im Monat gekommen, für Grundbedürfnisse wie Wohnen, Ernährung und Bekleidung aber auch Bildung und soziale Teilhabe.

Die Idee, um diese Bedürfnisse abzudecken, ist die Einführung einer Kindergrundsicherung, die transparent ist und für alle Kinder gilt. Sie ersetzt bisherige Leistungen wie die Familienbeihilfe. Unabhängig vom Einkommen der Eltern kriegen die Kinder Grundsicherung, nur die Höhe variiert.

 

Kann man denn an konkreten Zahlen festmachen, was die Kindergrundsicherung bringen würde?

Ja und die Ergebnisse sind aus unserer Sicht sehr bestechend. Kinderarmut würde von jetzt ungefähr 19% auf 6% sinken, das wäre eine europaweite Sensation. Auch für die 6%, die dann noch immer unter der Armutsgefährdungsschwelle bleiben, würde sich die Situation drastisch verbessern.

 

Das klingt wahnsinnig super! Habt ihr auch berechnet, wieviel dieses neue Modell kosten würde?

Die Kosten dafür, im Vergleich zu dem jetzigen System, würden sich auf 2 Milliarden Euro pro Jahr belaufen. Natürlich sind 2 Milliarden Euro eine hohe Summe, aber gleichzeitig glauben wir, dass das in dem Haushaltsbudget von Österreich durchaus machbar ist, wenn man das mit anderen Ausgaben vergleicht, die getätigt werden. Aus unserer Sicht haben uns die Ergebnisse gefreut, wir waren davor sehr unsicher, ob das Modell überhaupt finanzierbar ist, aber es ist einerseits eine sehr punktgenaue Unterstützung und gleichzeitig sind die Kosten geringer als wir erwartet haben.

 

Weil du ja auch schon das Thema Familienbeihilfe angesprochen hast – was wäre, abgesehen von der Höhe, der Unterschied zur Familienbeihilfe? 

Der Unterschied wäre, dass es keine Leistung ist, die für alle gleich ist. Sie deckt einerseits tatsächlich auch die Kosten ab und bringt eben auch eine Differenzierung, sodass Armutsbetroffene mehr bekommen. Die Familienbeihilfe ist einfach kein Mittel zur Armutsbekämpfung. Es ist eine Unterstützung für Familien, das ist auch wichtig, aber es hat mit Armutsbekämpfung eigentlich nichts zu tun.

 

Das Projekt hat eine Laufzeit von zwei Jahren, das heißt, es ist noch voll im Gange. Gibt es trotzdem schon erste Ergebnisse, wie es den Familien mit der Unterstützung geht?

Ich fange vielleicht am Beginn an: Wir haben noch vor dem Projektstart mit allen Familienmitgliedern Einzelinterviews gemacht, mit verschiedenen Methoden, wir haben einen Kinderzukunftsrat ins Leben gerufen, in welchem die Familie gemeinsam geplant hat, was sie mit der Unterstützung machen will. Und in der Auswertung dieser Interviews ist einfach nochmal deutlicher geworden, dass die materielle Armut so allumfassend ist.

Wir haben einerseits gemerkt, dass die Kinder wirklich in all ihren Lebensbereichen betroffen sind. Die andere Erkenntnis war, dass die Kinder die schwierige Situation ganz genau mitbekommen. Schon Kinder im Volkschulalter wissen: Das Ende des Monats ist ein Problem.

 

Echt? Auch, wenn sie noch so klein sind, bekommen sie das mit? 

Ja, genau. Das hat uns schon sehr erschreckt. Ein Bursche hat gesagt, er weiß, dass das Monat zu Ende geht, wenn es nur mehr Toastbrot gibt. Der Vater hat das dann in einem Einzelinterview auch bestätigt, in welchem er auch gesagt hat, am Ende des Monats, wenn nichts mehr geht, es halt Toastbrot gibt, weil es das Billigste ist und er irgendwie schauen muss, dass er die Kinder satt bekommt.

Als man den Burschen nach einer Veränderung gefragt hat, die durch das Projekt zustande gekommen ist, hat er gleich gesagt, dass es kein Toastbrot mehr gibt.

Das ist zwar nur ein kleines Beispiel, aber so wertvoll, das war wirklich ein sehr berührender Moment.

 

Gibt es noch mehr Beispiele von anderen Familien im Projekt?

Was wir am Anfang auch gesehen haben, ist, dass die Planungen von Kindern und Eltern oft sehr konkret sind und sich auf den laufenden Monat beziehen –  und nicht auf die Urlaubsplanung für den Sommer oder Ähnliches.

Wenn es darum geht, was mit dem Geld passiert, hat zum Beispiel eine Mutter einen großen Einkaufskorb aufzeichnet. Sie hat gesagt, sie wünscht sich, dass sie einkaufen gehen kann, ohne dreimal durchzudenken, ob sich das ausgeht, sondern einkaufen kann, was sie braucht.

Und für einen Burschen war gerade Sport ein Thema, er hat sich Laufschuhe gewünscht. Also es sind so konkrete, klare Wünsche, oft wünschen sich Kinder ja Dinge, die nicht realisierbar oder vielleicht unpassend fürs Alter sind, aber die Wünsche waren so bescheiden formuliert und nur darauf bezogen, was notwendig ist.

Der größte „Luxuswunsch“ war es, reiten zu gehen und natürlich, Reiten ist ein teures Hobby, aber das war sozusagen das Luxuriöseste, was überhaupt vorgekommen ist.

 

Was müsste eurer Meinung nach passieren, damit die Kindergrundsicherung auch wirklich österreichweit umgesetzt wird? 

Wir glauben, dass viele Menschen erstens nicht wissen, wie viele armutsbetroffene Kinder es in Österreich überhaupt gibt und zweitens, sich kaum vorstellen können, wie sozusagen eine andere Welt in dem Bereich auch ausschauen könnte. Das heißt, unser Ziel ist es, dass diese beiden Themen möglichst in der Bevölkerung verankert sind. Wenn dadurch ein Momentum ausgelöst werden kann, wenn die Bevölkerung sich dafür einsetzt, dass es ungerecht ist, so wie es jetzt ist und dass es aber anders sein könnte, dann glauben wir, dass dadurch der Druck auf die politisch Verantwortlichen so groß werden kann, dass es zu einer Umsetzung kommt.

 

UPDATE (15.06.2021) : Wir haben das Interview im September 2020 geführt, mittlerweile ist das Projekt abgeschlossen. Die Volkshilfe hat eine Petition für die Einführung der Kindergrundsicherung gestartet. Ihr könnt sie hier unterzeichnen: https://www.kinderarmut-abschaffen.at/petition